Perfektion 1: Die Veränderten
Perfektion - Die Veränderten
1. Kapitel – Außenwelt
»Das würde ich gerne mit dir erkunden, Adara.« Tally starrt aus dem Fenster des Schwebers.
Ich folge ihrem Blick. Allerdings kann ich nicht erkennen, was sie meint. Draußen sehe ich in der Mittagssonne nur schwarze Steine, verdorrte Büsche und tote Bäume, die ihre Äste in den Himmel strecken. Kein Leben, das mich reizen würde. »Wovon redest du?«
»Dahinten! Der Förderturm.« Sie hebt die Hand und deutet auf ein Gerüst am Horizont.
Vage Bilder an andere Gebilde dieser Art, steigen in mir auf. Doch ich kann sie nicht greifen. Dieser Förderturm erinnert mich jedenfalls an den Tod. Nicht eine Bewegung ist bei ihm auszumachen. »Warum willst du dorthin? Da ist nichts!«
»Woher willst du das wissen? Wir waren noch nie dort. Immer fliegen wir nur daran vorbei, sehen alles aus der Ferne. Wie kann das genug sein? Ich will Abenteuer erleben und meinen Kindern die Welt zeigen!«
Ich lehne mich im Sessel zurück und schließe für einen Moment die Augen. Es fällt mir schwer, Tallys Sehnsüchte zu verstehen. Ich wünsche mir anderes. Mich zu erinnern zum Beispiel.
Mein ganzes Leben ist fort. Nur die letzten drei Monate sind noch da. Meine Zeit mit Tally. Ihre Lebensfreude und Geduld sind es, die mich in eine schützende Decke einhüllen und mir die Kraft geben, sämtliches Wissen neu zu erlernen. Trotzdem kommt mir alles merkwürdig vor. Ich habe das Gefühl, als wäre alles falsch. Als würde meine neue Welt aus Lügen bestehen. Jedes Mal, sobald ich einen der Propaganda-Filme von Genteck Systeme sehe, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Unveränderte wie Tally sind ganz und gar keine Menschen zweiter Klasse. Ohne Tally wäre ich aufgeschmissen! Dennoch muss ich zugeben, dass das Leben bei Genteck seine guten Seiten hat. Noch vor einer Stunde sind wir durch eine gläserne Kuppel spaziert, in der das Leben blühte. Kaninchen flitzten zwischen Rhododendronbüschen über die Wiesen. Ein Bachlauf lud Enten zum Baden ein … Alles war da. Aber nun? Hier draußen gibt es nichts! Nur tote Überreste aus einer Zeit, von der ich nichts weiß. Innerlich balle ich die Fäuste. Meine Muskeln spannen sich an. Ich muss es wissen. »Was ist hier passiert?«
»Ich weiß es nicht.« Tally berührt mich am Arm. »Ich bin mir nur sicher: Es muss da draußen mehr geben! Mehr, als wir glauben, Adara! Genteck Systeme will, dass wir uns nur mit den schönen Dingen beschäftigen. Aber das kann ich nicht. Wenn ich könnte, würde ich das ganze Land erkunden.«
»Das ist nicht mit deinem Kinderwunsch vereinbar. Reisen und Kinder geht nicht«, erinnere ich sie an die Worte von Genteck Systeme. Dabei hat sie vermutlich recht. Nur da draußen würden meine Fragen ehrlich beantwortet und Tallys Neugierde gestillt. Aber wir können nicht weg. Der Pilot des Schwebers wurde angewiesen, uns ohne Umwege vom Forschungskomplex zu unserer Wohnkuppel zu fliegen. Schnellstmöglich.
Ich drücke Tallys vernarbte Finger. Mit einem Lächeln versuche ich, sie aufzumuntern. »Wenn die Kinder groß genug sind, vielleicht können wir dann –«
Ihre Finger entgleiten meinen, als der Schweber in ein Luftloch fällt. Nichts Ungewöhnliches, aber er fängt sich nicht wie sonst.
Wir sacken weiter ab, ich kralle mich an den Armlehnen fest. Der Schweber ruckelt und wackelt, schüttelt uns schmerzhaft durch. Ein unerträgliches Pfeifen ertönt, wir werden nach rechts geschleudert, wobei Tallys Kopf gegen das Fenster knallt.
»Alles in Ordnung?« Ich richte mich im Sessel auf und sehe sie besorgt an. Tally nickt. Ich versuche, die Richtung auszumachen, aus der das Geräusch kommt. Keine Chance. Alles bebt und knarrt. Ein weiteres Schlingern. Ich werde gegen Tally geworfen und stürze zu Boden.
Der Schweber driftet nach links.
Erschrocken hole ich tief Luft, beiße mir auf die Zunge. Ich schmecke Blut, verdränge es aber. Ich muss mehr sehen, einen Blick aus dem Fenster werfen.
Noch während ich versuche, mich aufzurichten, jault der Motor auf. Mit einem Sprung nach vorne endet der Flug. Krachend prallen wir auf den Felsboden. Ein gewaltiger Ruck geht durch meinen Körper, presst sämtliche Luft aus meinen Lungen.
Der Schweber überschlägt sich. Kurzzeitig stehen wir Kopf, nur um auf der Seite zum Stillstand zu kommen.
Metall knirscht und reißt. Immerhin werde ich nicht mehr hin und her geschleudert. Gerade als ich mich aufrappeln will, löst sich eine Metallplatte aus der Deckenverkleidung und begräbt mich unter sich. Quer über meiner Brust liegt das schwere Metall. Ich kann kaum atmen. Ich versuche, die Platte zur Seite zu schieben, aber es geht nicht.
Panik keimt in mir auf. Wie soll ich mich befreien? Alleine schaffe ich das nicht.
»Tally«, krächze ich und warte auf eine Antwort. Es kommt keine. »Tally!«, rufe ich lauter. Ich kann sie nicht sehen. Lebt sie? Vielleicht hat sie das Bewusstsein verloren. Ich muss zu ihr.
Abermals bemühe ich mich, mich unter der Metallplatte hervorzuschieben, doch ich muss innehalten. In meiner Seite sticht es unangenehm, worauf mein Herz stolpert. Meine Sorge gilt dem Leben, das in mir heranwächst. Es ist noch so frisch, dass ich es nicht glauben kann … Womöglich hat es den Absturz nicht überstanden. Entsetzt reiße ich die Augen auf. Falls es noch eine Chance gibt, der Menschheit dieses Kind zu schenken, dann nur, wenn ich überlebe!
»Tally?«
Sie kann mir nicht helfen. Ich muss alleine klarkommen. Also nehme ich all meine Kraft zusammen, stemme das Metall hoch und rolle mich zur Seite. Die Kanten sind scharf, ich schneide mir die Finger an ihnen. Blut rinnt meinen Arm hinab, ich ignoriere es. Kaum ziehe ich die Hand weg, da kracht die Platte neben mir zu Boden. Schwer atmend bleibe ich einen Moment liegen, hebe schützend die Arme über den Kopf, falls weitere Teile des Schwebers herabstürzen. Aber alles bleibt an seinem Platz.
Beißender Rauch dringt in meine Nase und bringt meine Augen zum Tränen. Um mich herum wird es heißer. Flammen fressen sich durch den Rumpf des Schwebers. Wir müssen dringend ins Freie! Hektisch sehe ich mich um, versuche, Tally in dem Chaos zu finden. Kabel, Metallverkleidungen und die Polster der Sessel liegen wild durcheinander. Dazu Splitter der zerbrochenen Scheiben.
»Tally! Wo bist du?«
Ich bekomme keine Antwort. Das Einzige, was ich höre, ist das Prasseln des Feuers. Es breitet sich aus. Der vordere Teil des Schwebers ist schon nicht mehr zugänglich. Ich hoffe, der Pilot konnte sich retten.
Hinter mir höre ich ein leises Stöhnen. Ich wirble herum. »Tally!«
Sie reagiert nicht. Wo ist sie?
Dann endlich entdecke ich zwischen den Sesseln ihren violetten Haarschopf. Ich springe zu ihr, will sie an den Schultern packen und hochzerren, doch Tally schüttelt den Kopf. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Ihre Haut ist stark gerötet. Dadurch zeichnen sich die sonst roten und schwulstigen Narben weniger von der Haut ab.
»Med-Pack«, flüstert sie.
Med-Pack. Natürlich … aber in dem Chaos? Ich weiß nicht einmal, wo ich es suchen soll. Dabei muss es einen standardisierten Platz dafür geben, wie für alle Teile, die zur Ausrüstung von Schwebern, Forschungseinrichtungen oder Wohnungen gehören.
Unsicher, in welche Richtung ich mich wenden soll, steuere ich einen Haufen mit besonders vielen Trümmern an. Ehe ich mich nach einem Teil bücken kann, räuspert sich Tally. Ich drehe mich zu ihr um und sehe sie fragend an. Tally deutet mit dem Kopf zur Ausstiegsluke im hinteren Teil des Schwebers.
Mit zitternden Beinen kämpfe ich mich durch den Schutt. Zum Glück zieht der Rauch nicht zu uns, sondern durch die zerbrochenen Panoramafenster in die Todeswüste hinaus. So kann ich wenigstens halbwegs erkennen, wohin ich trete.
Trotzdem komme ich nur quälend langsam voran. Immer wieder bleibe ich an Metallstreben, Glassplittern oder Kabeln hängen. Bei jedem zweiten Schritt muss ich mich an den Überresten der Außenverkleidung abstützen, um mich auf den Beinen zu halten. Das Lodern der Flammen ermahnt mich. Ich muss mich beeilen, sonst ist Tally verloren.
Noch zwei Schritte trennen mich von der Außenwand. In einem Netz, direkt neben der Ausstiegsluke, sehe ich einen dunkelblauen Rucksack mit einem roten Symbol. Ein Äskulapstab – woher weiß ich das? – prangt in der Größe meiner Handfläche auf der vorderen Tasche des Rucksacks. Das Med-Pack. Noch ein Schritt, dann kann ich es greifen.
Plötzlich spüre ich eine Hand an meiner Seite. Ich drehe mich um. Tally steht mit Schweißperlen auf der Stirn hinter mir. In der Hand hält sie eine Glasscherbe, scharf und spitz sieht diese aus, als könne sie leicht durch sämtliche Materialien hindurchschneiden.
»Tally!« Überrascht ziehe ich eine Augenbraue hoch. »Du kannst stehen! Lass uns schnell von hier verschwinden.«
Aber Tally schüttelt den Kopf. Sie greift nach meinem Arm, packt mein Handgelenk. Dann setzt sie die Glasscherbe an meiner Haut an. »Es tut mir leid …«
Vor Schmerz schreie ich auf. Ich will die Hand wegziehen, doch Tally hält sie fest.
»Halt still!« Sie presst meine Finger zusammen und übt mehr Druck auf die Scherbe aus. Die Haut gibt nach. Blut quillt hervor.
»Was soll der Scheiß?« Ich will Tally von mir stoßen, aber da lässt sie die Scherbe bereits fallen und zieht mit einer ihrer Haarklammern aus der Wunde ein winziges Metallstück hervor. Es sieht beinahe aus wie die Chips, die Tieren im Forschungszentrum eingepflanzt werden. »Das … Was ist das?« Verwirrt sehe ich sie an.
»Deine Verbindung … Genteck Systeme. Du wirst dein Kind nie zu Gesicht bekommen! Geh zu den Schwestern!« Ihre sonst rötliche Gesichtsfarbe ist verschwunden. Bleich blickt sie mir entgegen, ihr Atem geht stoßweise. Dennoch schiebt sie mich energisch zur Seite und tastet nach dem Med-Pack hinter mir. Sie reißt es aus dem Netz, drückt es an meine Brust. Bevor ich fragen kann, legt sie mir einen Finger auf die Lippen. »Du musst … Geh! Sicherheit. Für euch beide.« Eine Hand legt sie auf ihren Bauch. Unter den Fingern ist die gelbe Bluse rot verfärbt. Quer über ihre Seite verläuft der Blutfleck. »Zu schwach. Kann nicht mitkommen.« Keuchend lehnt sie sich an die Wand. Aus ihrer Hosentasche angelt sie zwei Ampullen und reicht sie mir. »Draußen verstecken … Wärmedecke. Injizieren. Drohnen!«
Sie drängt mich zu einem der zerborstenen Panoramafenster. »Geh!« Kurz schließt sie die Augen, nur um mir darauf einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Ihre Lippen beben leicht und sind eisig kalt.
Ich greife nach ihrer Hand und will sie mit mir zerren. Doch Tally schüttelt den Kopf. »Muss bleiben …«
»Tally! Komm mit mir! Wir schaffen das.«
Hinter uns kracht Metall herunter. Es wird heißer, die Flammen nähern sich. Wir müssen hier raus! Aber Tally wehrt meine Hände ab. Sie drückt sich an die Außenwand und deutet mit schmerzverzerrtem Blick auf die Steinwüste außerhalb des Schwebers. »Adara«, flüstert sie. Ihre Beine tragen sie nicht länger, wodurch sie an der Wand herab sackt. »Bitte. Leb … Träume.« Ihre Wimpern flattern, bis sie die Augen zusammenpresst und den Kopf wegdreht.
Unsicher, ob sie noch atmet, beuge ich mich zu ihr hinab. Ich fühle ihren Puls. Erstaunt darüber, woher ich weiß, was ich zu tun habe, überprüfe ich ihre Lebenszeichen. Ich kann ihr nicht helfen. Sie hat zu viel Blut verloren. Auf die Erinnerung, was aus dem Med-Pack sie retten könnte, habe ich keinen Zugriff. Mir bleibt keine Zeit, Handbücher zu wälzen. Die Flammen sind gefährlich nah. Die Ausstiegsluke ist zu weit weg und die Panoramafenster sind zu hoch. Was soll ich tun? Ich kann sie nicht hier zurücklassen! Sie würde sterben. Da begreife ich: Genau das will Tally. Sterben, damit sie mich rettet.
Tränen laufen über meine Wangen. »Oh, Tally!«
Sie reagiert nicht. Doch auch aus ihren Augenwinkeln rinnen Tränen.
Der Schweber rutscht zur Seite, wodurch sich weitere Metallplatten der Abdeckungen lösen. Kabel hängen herab und fangen bereits Feuer. Ich setze das Med-Pack auf, stecke die Ampullen in meine Hosentasche. Ein letztes Mal greife ich nach Tallys Hand und will sie auf die Füße zerren.
Doch sie flüstert: »Du … Kind … Überleben! Weit weg … notwendig! Lauf!«
Da endlich reiße ich mich von ihr los. Bleibe ich, werden wir alle drei hier sterben. Also steige ich über die Trümmer zum Fenster. Die scharfen Kanten der zersplitterten Glasscheibe schneiden mir in die Finger, erinnern mich daran, was Tally vor wenigen Augenblicken getan hat. Auch mein Handgelenk schmerzt und blutet. Später.
Ich schwinge mich hinaus und rutsche am Rumpf des Schwebers hinab, bis die schwarzen Steine mich auffangen. Ich rapple mich auf und laufe mit letzter Kraft los. Wohin ich renne, sehe ich nicht. Tränen verschleiern meine Sicht. Tally sagte, ich soll mich verstecken. Nur wo? Um mich herum kann ich nur verschwommen Steine und Dornengestrüpp erkennen. Nichts, was wirklich Schutz bietet. Also muss das Gestrüpp reichen.
Ich stürze darauf zu, froh, dass meine Beine mich noch tragen. Gerade rechtzeitig lasse ich mich in den Dornenbusch fallen. Über mir höre ich das Surren herannahender Drohnen. Vielleicht können sie Tally retten.
Ich blicke zurück zum Schweber. In dem Moment geht das Wrack endgültig in Flammen auf.
Ich will aufschreien, aber ich beherrsche mich. Tally wollte, dass ich verschwinde, um mein ungeborenes Kind und mich zu retten. Da ist das Mindeste, was ich tun kann, ihren Worten zu folgen und keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Schnell hole ich die Ampullen aus meiner Hosentasche, krame im Med-Pack nach einem Injektor und finde auch die Wärmedecke, von der Tally gesprochen hat. Ich werfe sie über mich und bereite die Ampullen vor. Was auch immer das ist, Tally wird schon wissen, was sie mir gibt. Ich vertraue ihr, also setze ich den Injektor an. Fast augenblicklich verschwimmt die Welt um mich herum und wird schwarz.